Rezension Selbststeuerung

Wie fühlt der Coach beim coachen?

Kannicht, Andreas / Schmid, Bernd 2015

„Einführung in systemische Konzepte der Selbststeuerung“

Carl-Auer-Verlag, Heidelberg

 

Wie entsteht – angesichts einer nicht vorsehbaren Inszenierung von (Problem-)Wirklichkeiten durch den Klienten – bei der Beraterin während der Beratung die innere Kommunikation zwischen Fühlen, Denken und Handeln, die zu einer Intervention führen soll, die für den Klienten nützlich ist? Kannicht und Schmid schlagen ein Konzept systemischer Selbststeuerung vor, welches dazu anleitet – oder man sollte sagen – darauf aufmerksam macht, wie die Enge der Problemkonstruktion erweitert und überwunden werden kann.

In ihrem Buch schildern die Autoren einleitend die Geschichte systemischer Beratung, dürfen sie doch für sich in Anspruch nehmen diese Geschichte in der Entwicklung eigener Praxis und Expertise nicht nur erlebt, sondern zu ihrem professionellen Fachdiskurs beigetragen zu haben. Da sich das Geschehen der Beratung und ihre intendierten heilsamen Effekte der Verfügbarkeit des Beraters entziehen, benennen Kannicht und Schmid für ein tieferes Verständnis von systemischer Beratung die Metapher der bildenden Kunst. Damit erläutern sie das Verhältnis zwischen einer technischen Kunstfertigkeit einerseits und einer Ästhetik der Sinnhaftigkeit von Beratung auf einer Meta-Ebene. Kritisch hinterfragen sie, ob der dabei schleichende Kulturimport der eigenen Weltanschauung und der eigenen Deutungskunst überhaupt zur Deutungskunst und Problembearbeitungskunst des Klienten passt?

Gemeinsames Entdecken statt expertenfixierte Verschreibung

 

Wie kann eine Selbststeuerungskompetenz der Beraterin / des Beraters dazu beitragen, dass eben nicht lediglich eine scheinbar therapeutische, expertenfixierte Verschreibung stattfindet sondern ein gemeinsamer Prozess des Verstehens von Dynamiken, Funktionen und des Entdeckens alternativer Handlungsweisen? Dabei distanzieren sich die Autoren selbst von der Idee, die Beraterin / der Berater könne alleine Verantwortung für die Steuerung des Beratungsprozesses übernehmen. Sie geben jedoch gute Hinweise zur Vermeidung einer vom Sinn entblößten mechanistischen Handhabung von Fragetechniken und Tools, die dem Klienten / der Klientin nicht gerecht würden .

Ich erinnere mich an ein Fachgespräch mit dem Pädagogen Richard Münchmeyer über die Intentionen pädagogischer Programme und deren Chance zur Verwirklichung. Er sagte:

Ein schlechter Lehrer realisiert 80% seiner Unterrichtsvorbereitung, ein guter Lehrer realisiert 20%.

Kannicht und Schmid ergänzen die vier klassischen Dimensionen systemischen Arbeitens Theorie, Technik, Haltung und Kontextsensibilität um eine fünfte Dimension, dem Konzept der systemischen Selbststeuerung. Im übertragenen Sinne könnte man sagen, dass sich dieses Konzept darum bemüht die Lücke zwischen einer 20%igen Vorbereitung und einem nicht zufälligen, sondern einem begründeten und orientierten Beratungserfolg zu schließen. Die Autoren scheuen sich nicht davor, ausgetretene Pfade zu verlassen und rehabilitieren in der Erörterung von grundlegenden Vorgehensweisen auch Strategien der Positionierung, des Angebots von Expertise und der Konfrontation. Entscheidend ist dabei nicht nur die Nützlichkeit, sondern die Wahlfreiheit und damit auch die Wahrung der Selbstverantwortung des Klienten. Des Weiteren stellen sie eine Auswahl feldspezifischer Konzepte vor, die Zugänge zu den Themen Problemdefinitionen im Coaching, Perspektiven der Teamentwicklung, Change-Prozesse, Führung und Supervision anbieten. Somit entsteht der Entwurf einer Mulitperspektivität, die der Absicht dienlich sein soll, der Falle der Vereinfachung komplexer Zusammenhänge zu entkommen.

Die Autoren fragen nicht nur danach, was im systemischen Sinne angemessen, nützlich, kompatibel oder anregend ist. Sie führen eine Meta-Ebene der Diskussion der Erschließung des Sinnhaften ein und vermeiden damit erfolgreich, was sich in der Konjunktur des Systemischen leider auch ereignet: Eine spröde und oberflächliche Handhabung systemischer Tools und Erfolgsversprechungen.

Die sich anschließende Darstellung von Steuerungskonzepten höherer Ordnung will darauf aufmerksam machen, daß Betrachtungen, sprich rekonstruierte Wirklichkeiten und zu wählende Konzepte in der Beratung (die ihrerseits Wirklichkeiten erzeugen), aufeinander abgestimmt werden können. Schmid hat hierfür die Steuerungsebenen Praxis, operative Programme und Metaperspektiven beschrieben. Er vertieft diesen Ansatz mit der Erläuterung von Persönlichkeits- und Rollenmodellen, die interdisziplinär anwendbar sind und ohne tiefgehende biographische Aufarbeitungen auskommen und gibt zahlreiche weitere Hinweise zur Erschließung von Perspektiven und Vorgehensweisen. Das Buch ist eher eine Zusammenfassung mit exemplarischen Modellierungen von Interventionen als eine Einführung. Unter bestimmten Aspekten wäre auch von einer Weiterführung zu sprechen.

Fazit

Für die Beginnerin / den Beginner in den Themen Beratung und systemisches Arbeiten dürfte es zunächst schwer lesbar und nachvollziehbar sein, für den bzw. die fortgeschrittene systemische Beraterin / den Berater ist es ein ganz hervorragendes Skript. Eine Landkarte, die dazu einlädt bestimmte Orte aufzusuchen, dort zu verweilen oder weiter zu reisen. Diese Landkarte offenbart zahlreiche Essentials aus der jahrelangen Arbeit von Kannicht und Schmid. Da die Autoren vorschlagen, sich weniger um trennscharfe Definitionen zu bemühen, sondern eher um kernprägnante Beschreibungen, sind beide Termini, Einführung und Zusammenfassung, durchaus passend und nützlich – je nach dem, wie man das Buch nutzen möchte. Für den systemischen Berater, die systemische Beraterin der /die sich weiter professionalisieren möchte, dürfte ein Einstieg oder auch eine gründliche Aufarbeitung in systemische Konzepte der Selbststeuerung über das vorliegende Buch auf jeden Fall lohnenswert sein.

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Rezension veröffentlicht in

systeme – interdisziplinäre Zeitschrift für systemtheoretisch orientierte Forschung und Praxis 1/15

Herausgegeben von
ÖAS – Österreichische Arbeitsgemeinschaft für systemische Therapie und systemische Studien
SG – Systemische Gesellschaft, Deutscher Verband für systemische Forschung, Therapie, Supervision und Beratung e.V.